Heilkunst und schöne Künste. Medizin – Literatur – Kunst – Wissenschaft (2. Trogener Bibliotheksgespräche)

Heilkunst und schöne Künste. Medizin – Literatur – Kunst – Wissenschaft (2. Trogener Bibliotheksgespräche)

Organisatoren
Kantonsbibliothek Appenzell Außerrhoden, Trogen; Institute für Germanistik der Universitäten Bern und Bochum
Ort
Trogen
Land
Switzerland
Vom - Bis
07.06.2007 - 09.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Katja Fries, Institut für Germanistik, Universität Bern

Die Rolle der ›philosophischen‹ bzw. ›vernünftigen‹ Ärzte in Literatur und Wissenschaften des 18. Jahrhunderts wurde aus literarischer, medizinischer, wissenschaftlicher, kunst- und musikgeschichtlicher Sicht anlässlich der 2. Trogener Bibliotheksgespräche diskutiert, die unter Leitung von Heidi Eisenhut (Trogen), Anett Lütteken (Bern) und Carsten Zelle (Bochum) Anfang Juni 2007 in der Zellwegerstube in Trogen stattfanden.

In drei thematischen Blöcken wurde mittels exemplarischer Fallstudien das Verhältnis der Medizin zur Gelehrsamkeit, zu den schönen Künsten und schließlich zur schönen Literatur aufeinander bezogen. Das besondere Interesse galt neben dem Naturlehrer Johann Gottlob Krüger, den literarisch schreibenden Medizinern und Gelehrten Gottfried August Bürger, Christoph Wilhelm Hufeland, Johann Wolfgang Goethe, Georg Christoph Lichtenberg, Christlob Mylius, Theodor Johann Quistorp, Friedrich Schiller und nicht zuletzt dem Trogener Arzt Laurenz Zellweger (1692-1764). Dieser verkörperte das Miteinander von Naturwissenschaft und schönen Künsten besonders eindrücklich.

Den Auftakt zum ersten Themenblock ›Medizin und Wissenschaft‹ machte Carsten Zelle (Bochum), der über Johann Gottlob Krügers (1715-1759) Werk Träume (Halle 1754; (4) 1785) referierte und die Sammlung von insgesamt 160 Traumsatiren bzw. kürzeren parabelhaft-allegorischen Erzähltexten in den Kontext des anthropologischen Wissens der »vernünftigen Ärzte« um 1750 einordnete. Exemplarisch wurde beim 65. Traum gezeigt, wie Krüger vier verschiedene ›Kunstmaschinen‹, die damals konkurrierenden_ commercium-mentis-et-corporis-_Modelle, literarisch einsetzte, um die Spannung von populärwissenschaftlicher Funktion und literarischem Eigensinn des aufklärerischen und bisher in der Forschung kaum beachteten Traumgenres herauszustellen.

In den beiden folgenden Beiträgen wurden Gelehrte auf Molkenkur im Appenzellerland von Heidi Eisenhut (Trogen) und die medizinische Aphoristik des Göttinger Physikers und Mathematikers Georg Christoph Lichtenberg von Urs Meyer (Fribourg) vorgestellt. Heidi Eisenhut fragte nach dem historischen Ort der Molkentradition im Appenzellerland, Zellwegers Aussagen über die Molke als Heilmittel, wie nach dem Einfluss Bodmers bei der Rezeption der Trogener Aufenthalte in seinem Freundeskreis. Zellweger, der u.a. auch in den Diskursen der Mahler publizierte, fungierte ab den 40er Jahren als kultureller Katalysator im Bodmer/Breitinger-Kreis, insofern der als »Philokles« geachtete ›vernünftige Arzt‹ regelmäßig, u.a. Sulzer, Gessner, Hirzel, Klopstock oder Wieland, im Sommer zur Molkenkur in seine ›förene Hütte‹ ins Appenzellerland einlud. Obwohl diese Daten bisher mehr oder weniger als kulturhistorische Curiosa bekannt gewesen seien, komme es, so Eisenhut, darauf an, das organisierende anthropologische Muster zu erkennen, worin medizinische Ausbildung und der sezierende Blick auf Mensch und Natur, bürgerliche Wahrnehmung und -darstellung der eigenen Lebenswelt, der Elemente, welche diese ausmachen und der Freiheit zur Gestaltung derselben sowie aufklärerische Geselligkeitskultur signifikant zusammentreffen. Urs Meyers Ausführungen spannten den Bogen zu den Medizinern im Göttinger Kreis, die zur Zeit Lichtenbergs (Ernst Gottfried Baldinger, Johann Friedrich Blumenbach, Justus Arnemann u.a.) durch die intensive Rezeption holländischer, schottischer und englischer Medizintheorien (insbesondere H. Boerhaave, R. Whyte, William Cullen und David Hartley) geprägt war. Lichtenbergs parodistische Umfunktionierung der hippokratischen Aphorismen als Gefäß zur Rezeption neuzeitlicher medizinischer Theorien befreite die deutschsprachige Aphoristik des 18. Jahrhunderts aus ihrer Abhängigkeit von der französischen Moralistik und eröffnete ihr neue Gestaltungsmöglichkeiten.

Der öffentliche Abendvortrag von Heinz Schott (Bonn) eröffnete den zweiten Themenblock ›Heilkunst und schöne Künste‹, nachdem Regierungsrat Jürg Wernli das zahlreich erschienene kulturinteressierte Publikum gebührend begrüßt hatte. Schotts Aufriss machte deutlich, wie sehr die Heilkunst gerade im 18. Jahrhundert vielfältig mit den schönen Künsten verwoben war. Der Vortrag bot hierzu einen Überblick über verschiedene Arbeitsfelder und illustrierte diese anhand konkreter Beispiele im Einzelnen: von der anatomischen Zergliederungskunst und der musealen Präsentation der Naturdinge im Rahmen des Naturalienkabinetts über den Beitrag der bildenden Kunst zur medizinischen Gelehrsamkeit in Form von Plastiken, Graphiken oder Stichen bis hin zur Bedeutung der Literatur für die Verarbeitung und Darstellung medizinischer Themen sowie zu Musik und Theaterspiel als gelegentliche therapeutische Momente.

Kunstgeschichtliche Perspektiven kamen am 2. Tagungstag zum Ausdruck: Lavaters Physiognomik stellte Edgar Bierende (Bern) vor, zu den in Bild gehauenen experimentellen Köpfen Messerschmids sprach Ulrich Pfarr (Frankfurt am Main), bevor Elisabeth Décultot (Paris) Winckelmanns medizinische Exzerptbücher in den Fokus nahm. Edgar Bierende stellte den Zürcher Arzt Johann Heinrich Lavater (1768-1819) als Ratgeber der Künstler vor, der 1790 die erste schweizerische Einführung zur menschlichen Anatomie für junge Künstler mit dem Titel Anleitung zur Kenntniss des menschlichen Körpers für Zeichner und Bildhauer publizierte. Dieses erfolgreiche Handbuch war neben einem beschreibenden Text mit vielen ausklappbaren Kupferstichen von Laurenz Halder (1765-1821) zum visuellen Nachvollzug ausgestattet. Da Lavaters eigenständige Beschreibungen der menschlichen Anatomie auch die über Muskeln, Bewegungen und Hautverfärbungen sich abzeichnenden Affekte und Leidenschaften charakterisierten, vermutete Bierende, dass der Sohn Johann Caspar Lavaters als Arzt mit seinem anatomischen Blick zu Fragen der künstlerischen Qualität Maßstab und Richtschnur bereitstellen konnte. Daraufhin ergründete Ulrich Pfarr die rätselhaften »Egyptischen Köpfe« des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt (1736-1783). Denn die vermeintlich stillos wirkenden Köpfe mit ihren heftigen Verzerrungen stellen eine anatomisch zutreffende Gesichtsmimik dar und seien einem drastischen Realismus verpflichtet. In ihrem Beitrag belegte Elisabeth Décultot (Paris) die These, dass in Winckelmanns wissenschaftlichem Programm eine Verbindung zwischen Medizin und Kunstgeschichte existiere. Winckelmann, der gemeinhin als Begründer der Kunstgeschichte gilt, interessierte sich zeitlebens für medizinische Forschungen, wofür vor allem seine Exzerptbücher stehen. Zwischen etwa 1738 und 1754 exzerpierte er ca. 160 dicht beschriebene Seiten über naturwissenschaftliche Themen, die zum größten Teil medizinischen Publikationen gewidmet sind.

Gernot Gruber_ (Wien) und Cristina Urchueguía (Zürich) charakterisierten anschließend heilende Kräfte der Musik des 18. Jahrhunderts. Untersuchte Gernot Gruber die Zauberwirkung der Oper, so führte Cristina Urchueguía in die Instrumentalmusik von Jan Dismas Zelenka ein. Für die Oper des späteren 18. Jahrhunderts, erläuterte Gruber, seien dem Interpreten polare Spannungen vorgegeben: das Ideal der aristotelischen »Mesótes« (der Widerherstellung des rechten Maßes) auf der einen und die seit dem Barock auch Extreme aufsuchende Affektdarstellung auf der anderen Seite. Gegenstand war zum einen der zeitgemäße Umgang mit dem Orpheus-Mythos (als zentralem Mythos von der Wirkung der Musik) in der Oper und zum anderen der auf den »Gang durch Feuer und Wasser« in der Zauberflöte Mozarts gelegte Fokus einer sublimen Wirkung ›reiner‹ Musik. Musiktheoretisch erörterte daran anschließend Cristina Urchueguía, dass schon Plato den besonderen Einfluss der Musik auf den menschlichen Körper und Geist im Sinne kommunizierender Röhren beschrieben hatte, die körperliche und seelische Harmonie zerstören oder wieder herstellen könne. Im 18. Jahrhundert wende sich die Musiktheorie von solcher Musikspekulation ab. Die Qualität der Musik werde nun danach bemessen, ob es ihr gelingt, »die Gemüter zu bewegen«. Wie man mit Instrumentalmusik pathologische Zustände abbilden, hervorbringen und heilen kann, wurde am Beispiel von Jan Dismas Zelenkas Instrumentalkomposition Hipocondrie (1723), einem bisher in der Forschung völlig vergessenen Werk, von Urchueguía vorgeführt.

Im dritten thematischen Block ›Medizin und schöne Literatur‹ situierte Klaus Manger (Jena) den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von Christoph Martin Wielands kleinem Aufsatz Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet (1778) – wie sich herausstellte ein Schlüsseltext der Deutschen Klassik, an den z.B. Christoph Wilhelm Hufelands Kunst das menschliche Leben zu verlängern (1796) anknüpfen konnte. Nachvollziehbar wurde eine Distanzierung von einem als Mängelwesen verstandenen Menschenbild.

Anett Lütteken (Bern) und Tanja van Hoorn (Oldenburg) widmeten sich in ihren Beiträgen den biographischen wie fiktionalisierten Leidensgeschichten und Kuren im Zeitalter der Aufklärung und spürten berühmte und weniger bekannte Hypochonder in der Literatur auf. Gelehrte und Schriftsteller des 18. Jahrhunderts schätzten Kuren aller Art, um Leiden wie die ›Hypochondrie‹ zu lindern. Ausgehend von den zahlreich überlieferten biographischen Dokumenten, die u.a. auch die soziale Dimension solcher Kuraufenthalte aufzeigen, formulierte Anett Lütteken die These, dass diese die Entstehung von Poesie in gewisser Hinsicht vorbereiten halfen, dass also ein enger Konnex zwischen lebensweltlicher Erfahrung und literarischem Text bestünde. Anhand zeitgenössischer Ärzte-Komödien um 1750 konnte Tanja van Hoorn exemplarisch zeigen, wie die Literatur medizinische Diskurse rezipierte und poetisch fruchtbar machte. Sie untersuchte den Transfer des kurrenten ästhetikaffinen medizinischen Wissens in das gefällige Lustspiel um 1750 und machte deutlich, wie sehr Mylius‘ und Quistorps komödiantische Medizindiskurse über die Vorgaben der Tradition dieser Lustspiele im Sinne Molières Le Malade imaginaire (1673) hinausgehen._

Vier Vorträge am letzten Tagungstag schlossen den dritten Themenblock ›Medizin und schöne Literatur‹ ab. Barbara Mahlmann-Bauer (Bern) referierte zur Wissenschaftssatire in Münchhausens Lügengeschichten, Gilles Darras (Paris) sprach zur Heilkunst und Literatur im Frühwerk Friedrich Schillers, Benedikt Jeßing (Bochum) stellte die musikalische Therapeutik in Goethes Lila vor und Markus Winkler (Genf) setzte sich mit der Heilung des Orest in Goethes Iphigenie auseinander. Barbara Mahlmann-Bauer erörterte die Textgenese der biologisch-medizinischen Lügengeschichten des Münchhausen (1781-1788) des akademischen Außenseiters Gottfried August Bürger und der englischen Fassung zu Bürgers Bearbeitung des Leibniz-Editors Rudolf Erich Raspe, die darin Johann Friedrich Blumenbach, die Göttinger Kant-Gegner wie den Wissenschaftsbetrieb in einer Satire der Lächerlichkeit preisgaben. Gilles Darras zeigte, inwiefern Schillers Frühwerk – und zwar sowohl die narrative als auch die dramatische Produktion – einen bedeutenden Beitrag zur literarischen Anthropologie, die die Spätaufklärung kennzeichnete, leistete. Als ehemaliger Medizinstudent unternahm der junge Schiller die Anwendung bzw. Fortsetzung seiner akademisch-theoretischen Studien zum Verhältnis von Körper und Seele im Bereich der Kunst, zunächst auf der Bühne, später dann in der Erzählfiktion und schließlich auch noch in der Geschichtsschreibung. Benedikt Jeßing behandelte im Blick auf die Entstehungsgeschichte von Goethes erst im Kontext der Italienreise in 3. Fassung fertig gestelltem »Festspiel mit Gesang und Tanz« drei Aspekte von übergeordneter Bedeutung: Erstens wird schon im ersten Bearbeitungsschritt die Rolle des (melancholisch) Kranken von einem Mann auf eine Frau übertragen; zweitens wird erst in der Schlussfassung die Charakteristik des psychopathologischen Krankheitsbildes präzise herausgearbeitet; drittens wird ebenfalls erst in der Schlussfassung die ›psychische Kur‹ genau erfassbar. Schließlich erläuterte Markus Winkler (Genf) am Beispiel der Heilung des Orest Heilkunde und Humanität in Goethes Iphigenie. Im Lichte semiotischer und gattungstheoretischer Überlegungen zeigte sich, dass das Programm der Heilung des Orest letztlich nicht psychologisch im Sinne einer individuellen ›psychischen Kur‹, wie sie in Lila inszeniert wird, zu verstehen ist, und auch nicht im Sinne eines Erkenntnisfortschritts vom Mythos zum anthropozentrischen Logos, sondern begriffsgeschichtlich und diskursanalytisch als Verwirklichung und Durchsetzung der antiken, humanistisch umgedeuteten Hellenen-Barbaren-Antithese auf der Ebene der mythologischen Handlungssequenz: Orest wird in dem Maße geheilt, in dem es gelingt, den Mythos im Sinne jener Antithese umzuschreiben, d.h. das Grausam-Inhumane aus dem Raum des Griechischen auszuschließen und im Raum des Barbarischen zu verorten.

In den Diskussionen zu den exemplarischen Fallstudien über ›vernünftige‹ bzw. ›philosophische‹ Ärzte und ›eingebildete‹ Kranke in den schönen Künsten und Wissenschaften des 18. Jahrhunderts wurde deutlich, wie medizinische Diskurse und Heilpraktiken in Göttingen, Halle und Zürich rezipiert wurden und wie neben der sommerlichen Badekur auch die Molkenkur am Beispiel Trogen gelebt und zelebriert und dadurch das Appenzellerland schon im 18. Jahrhundert nicht nur touristisch, sondern auch literarisch entdeckt wurde. Konnte mit Mozarts Zauberflöte, Zelenkas Instrumentalwerk oder Messerschmidts Köpfen exemplarisch gezeigt werden, wie wissenschaftliche Diskurse zu den Affekten oder der Heilkunst musikalisch oder plastisch umgesetzt wurden, so wurden diese auch auf literarischer Ebene mittels der Aphoristik Lichtenbergs, den karikierenden Ärztekomödien eines Mylius oder eines Quistorp oder in Bürgers satirischen biologisch-medizinischen Lügengeschichten des_ Münchhausen _fiktional weiterentwickelt.

Jürgen Stenzels Lesung zur »Literarischen Molkenkur«, die musikalisch von Hans Sturzenegger (Speicher) am Hackbrett begleitet wurde, rundete das 2. Trogener Bibliotheksgespräch ab.

Die Drucklegung der Tagungsbeiträge ist für 2008 vorgesehen. 2009 wird die nächste interdisziplinäre Tagung im Rahmen der 3. Trogener Bibliotheksgespräche von der Kantonsbibliothek Appenzell Außerrhoden, Trogen und den Instituten für Germanistik der Universitäten Bern und Bochum veranstaltet. Sie wird dem grenzüberschreitenden Kulturaustausch im 18. Jahrhundert gewidmet sein.

Kontakt

Dr. des. Heidi Eisenhut
Kantonsbibliothek Appenzell Außerroden, Trogen
<heidi.eisenhut@ar.ch>

Dr. Anett Lütteken
Institut für Germanistik
Universität Bern
<anett.luetteken@germ.unibe.ch>

Prof. Dr. Carsten Zelle
Germanistisches Institut
Ruhr-Universität Bochum
<carsten.zelle@ruhr-uni-bochum.de>